WG2 – Fragment einer Briefreinschrift an Alma Mahler
Tobelbad, zwischen Donnerstag, 30. Juni und Sonntag, 3. Juli 1910
Mein Engel,
seit ich allein bin, spiele ich liebkosend mit
Deinem berauschenden Schleier und bin so
glücklich, wie ein Kind, dieses Pfand
zu besitzen; es zaubert mir Deine ganze
himmlische Weiblichkeit vor die Sinne
und meine Phantasie arbeitet meister-
haft am Abend dieses herrlichen Tages.
Wir haben kaum drei Worte allein mit ei-
nander wechseln können, und doch bin
ich glücklich, denn tausend liebe Blicke
Deiner Augen und Zärtlichkeiten Deiner
Füße und Hände haben mich schmachten-
den erquickt; ich fühle nicht einen Tropfen
Bitterkeit, es ist alles gut gekommen. Ich
weiß nicht warum, aber ich spüre kein Unrecht
mehr und bin im Besitz ruhiger Sicherheit.
Es ist so schön zu sehn, wie Ihr beiden
Gatten mit einander verkehrt im Ton
höchster Achtung und mit der Vornehmheit
Eurer Gesinnungen. Ich beginne Deinen
aufrichtig zu verehren und begreife
so gut, mein Lieb, wie Du \mit/ diesem stärkeren
[am linken Rand um 90° gedreht:]
Kapelle nachdenken
[am rechten Rand:] [Skizze eines Lageplans]
Maaße nehmen
vom C##tplatz
zum
Diese Wartezeit muß ich damit verbringen,
Dir zu schreiben; es ist wie eine Erlösung,
mit Dir wenn auch so stumm plau-
dern zu können. Mich drückt ein Ge-
danke, den Du mir aufrichtig lösen
mußt: Mir schien es heut, als hättest
Du mir irgend etwas verheimlicht,
was Dein über mich gesagt hat.
Bitte verschweige mir nichts, mein Lieb-
ling, auch wenn Du glaubst mich mit
einem Tadel zu kränken. Eben bin [ich]
anderthalb Stunden zu Pferde gesessen
und habe meine stürmenden Gedanken
in starkem Trabe und Gallopp [!] aus-
getobt, das war eine göttliche Erfrischung
fern von der blöden Masse der Ruh-
gäste. Mein Denken ist so intensif
bei Dir, daß ich Dich fast dauernd
körperlich neben mir fühle und halb-
laut mit Dir spreche. Es macht mir
Vergnügen Deine Antworten zu kon-
struieren. Wär ich doch ein Dichter um
mit schöneren Worten Tempel zu bauen
in denen ich Dich anbete; alle unsere
Worte kommen mir viel zu blaß
und verbraucht vor für Dich, mein
Herz. Was hast Du mir schon für unbe-
schreibliche Wonnen und Seligkeiten bereitet,
einzige! Ich fühle, daß mir das Schwung-
kraft für Jahre geben wird und ich
kann erhobenen Hauptes einherschreiten
und meine Arbeit mit neuem Sinn
und mit Schönheit erfüllen. Welches
größere Glück könnte ich erdenken?
Was ich Dir dagegen geben kann erscheint mir
armselig, ich kann Dich nur mit unend-
licher Zärtlichkeit pflegen und mein ganzes
Vertrauen in Deine Hände legen.
Ein unbefriedigter Abend, mein Lieb, nicht einen
Kuß haben meine durstigen Lippen Dir heute geben
können; als Du eben meinen Stock in der Hand
hieltest, ging mir ein warmer Strom zum
Herzen, ich fühlte, wie Du mich streicheltest.
Wann werden diese drei Tage enden? Jede
Minute ohne Dich erscheint mir Qual und
ich sinne stundenlang nach, wie ich Dich eine
Nimm sie so auf
wie sie geschr.[ieben] wurden
und setze zu jede[r]
Zeile tausend Liebes-
worte
Apparat
Überlieferung
, , , , , .
Quellenbeschreibung
3 Bl. (5 b. S.) – Papierbogen, kariert.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
keine.
Datierung
Der Inhalt dieser Briefreinschrift lässt darauf schließen, dass sie während kurzen Aufenthalts in Tobelbad Anfang Juli 1910 verfasst wurde. So schrieb WG: Es ist so schön zu sehen, wie Ihr beiden Gatten mit einander verkehrt […] Diese Wartezeit muß ich damit verbringen, Dir zu schreiben. Anhand der Briefe an AM lässt sich der Zeitraum des Besuches festlegen: „Ich fahre also übermorgen (Donnerstag [30. Juni 1910]) mit demselben Zug, mit dem wir seinerzeit gefahren […]. Ich bleibe dann bis Sonntag [3. Juli 1910] und fahre nach dem Souper nach Graz um dort im Schlafwagen, den ich schon habe, nach Toblach abzudampfen“ ( Nr. 315, S. 435; vgl. , S. 360). WGs Passus Wann werden diese drei Tage enden? scheint dabei keinen konkreten Aufschluss über die Datierung zu geben, sondern sich vielmehr auf die Dauer des Besuchs und der damit verbundenen Trennung von AM zu beziehen, weshalb als Datierung für diese Reinschrift der Zeitraum vom 30. Juni bis 3. Juli 1910 angenommen wird.
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Jannik Franz)
Mein Engel, […] Liebesworte – Von den drei hier vorliegenden Blättern wurden zwei teils in Tinte verfasst, weisen eine Anrede auf und wurden nicht von redigiert, weshalb es sich wahrscheinlich um eine Reinschrift handelt. Dennoch scheint ein Teil zu fehlen, während andererseits auf dem zweiten Blatt mitten im Satz abbrach (zum). Ob es sich hier um einen angefangenen Brief handelt, der dann verworfen, nie abgesendet oder abgeändert abgesendet wurde, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Für Weiteres s. Datierung.
dieses Pfand – besuchte seine Frau vom 30. Juni bis 3. Juli 1910 in Tobelbad. Während dieser Zeit scheint ihren Schleier als eine Art Liebespfand gegeben zu haben. Diese Praxis sollten und auch später beibehalten, s. WG38 vom 6. oder 7. August 1910.
Kapelle nachdenken Maaße nehmen – möglicherweise bezugnehmend auf Gespräche zwischen und .
was Dein Mann über mich gesagt hat – Diese Aussage belegt, dass ihren und ihren einander vorgestellt hatte.
Nimm sie […] Liebesworte – Der letzte Absatz wurde in Bleistift verfasst.